Interview von Thierry Noir und Christophe Bouchet.
mit Françoise Cactus. 15 Januar 1985.

Françoise Cactus: Wir können Ihre Arbeit entlang des Bethaniendamms am Mariannenplatz sehen. Wann haben Sie mit der Bemalung der Mauer begonnen?

Thierry Noir: Es war der 16. April 1984, es war Vollmond.

Christophe Bouchet: Ich sagte mir, diese Mauer ist eine ungenutzte Leinwand. Wenn die Leute ihre politischen Graffiti darauf kritzeln, warum nicht auch Fresken darauf malen?

Françoise Cactus: Haben sich die Leute beschwert, weil Sie die politischen Graffiti übermalt haben?

Thierry Noir: Ja, ja, aber sehr selten. Ein Typ kam auf mich zu, als ich an der Mauer malte und sagte: "Egoistisch, du klaust die Mauer!" Er war wirklich ein sturer Kerl!

Christophe Bouchet: Sonst muss man sie sagen: "Na ja, es ist noch Platz für andere Graffiti". Die Berliner Mauer ist 165 Kilometer lang. Wir wollen nicht 165 Kilometer Mauer bemalen, das wäre eine titanische Aufgabe, es sei denn, wir hätten das Geld dafür, die Ausrüstung und wenn man uns Computer zur Verfügung stellen würde, aber das ist eine utopische Vorstellung.

Françoise Cactus: Wie viel Farbe haben Sie bis jetzt verbraucht?

Christophe Bouchet: Etwas über 1.000 Kilo.

Françoise Cactus: 1.000 Kilo? Übertreibst du nicht ein wenig?

Christophe Bouchet: Ja, ja, 1.000 Liter sind 1.000 Kilo, nicht wahr? Sie müssen auch 100 Spraydosen hinzufügen, 50 schwarze und 50 weiße.

Thierry Noir: Wir malen so schnell, wie wir können. Je schneller, desto besser. Ich habe ein Eimer mit Gelb, ein Eimer mit Blau, ein Eimer mit Rot und das war's! Erledigt! Ich male mit einer Walze, zak zak zak, die Formen in Windeseile. Dann mache ich die Konturen mit Sprühfarbe.

Christophe Bouchet: Ich male anders: Ich benutze das, was ich von alten Graffiti sehen kann, und ich verkleide es. Aus einer Kurve wird zum Beispiel ein Auge. Dann male ich auch mit Sprays. Figuren erscheinen, große Landschaften, große Monster zeigen ihre Zähne. Eines Tages kamen die Polizisten aus West-Berlin zu mir und sagten: "Es ist schön, was Sie malen!"

Thierry Noir: Uns wurde gesagt, dass es verboten sei, an der Mauer zu malen, dass die Westberliner Polizei uns Ärger machen würde. In der Tat stimmt das nicht! Es ist eine Legende! Die Mauer gehört auf beiden Seiten zur DDR. Bis zu fünf Meter vor der Mauer sind wir noch in Ost-Berlin.

Wegen dieser fünf Meter, die westdeutsche Polizei darf nicht in die Nähe der Mauer kommen, sie hat nichts zu sagen. Vielleicht sind sie sogar glücklich darüber.

Françoise Cactus: Aber die im Osten waren nicht glücklich, oder?

Thierry Noir: Die Vopos sind über die Mauer gegangen, weil das Westberliner Fernsehen uns gefilmt hat. Es war der Morgen des 16. Mai 1984.

Christophe Bouchet: Sie wunderten sich, warum plötzlich so viel Licht hinter der Mauer war.

Thierry Noir: Journalisten des Westberliner Fernsehsenders Sender Freies Berlin kamen zu dritt mit riesigen Filmscheinwerfern. Es war bei Sonnenaufgang, etwa um sechs Uhr morgens. Außerdem machte die elektrische Bohrmaschine an dem ruhigen Morgen in Kreuzberg einen ziemlichen Lärm.

Christophe hatte bereits Löcher in die Mauer gebohrt, um einige Dübel einzuschlagen, damit die Tür mit großen Schrauben halten würde. Zuvor hatte er zwei Sphinxe links und rechts gemalt, die sich gegenseitig ansahen. In der Mitte dieser beiden Sphinxe sollte die Tür stehen. Wir wollten mit dieser Kellertür den Eingang zum Paradies darstellen.

Plötzlich rief eines der SFB-Journalist: "Achtung, Leute! Gehen Sie zurück, schnell, schnell!"

Ich dachte: "Was hat er denn da zu schreien?" Ich schaue hoch, oh mein Gott, ich sehe den Kopf eines Vopos über der Mauer, der uns anschaut. Was für ein Schock. Er hätte uns erschießen können. Zum Glück nicht! Er verschwand direkt hinter der Mauer.

Was haben wir dann getan? Wir haben die Farbdosen hinter die Ost-West-Linie gestellt, für den Fall, dass es Probleme gibt. Dann gingen wir zurück in die Nähe der Mauer, um mit der Montage der Tür fortzufahren, aber der Vopo schaute wieder über die Mauer.

Dann sagten die Fernsehreporter: "Das reicht jetzt! Abrechnen! Alles stoppen!" Die Tür war schon an der Mauer befestig, aber sie hing immer noch nicht richtig. Wir warteten eine Weile in der Nähe der Tür, dann, nachdem das Fernsehteam gegangen war, gingen wir zurück in unser Jugendzentrum. Wir konnten von einem Fenster im ersten Stock über die Mauer schauen und sehen, was vor sich ging.

Man konnte eine Menge Leute im Niemandsland hinter der Mauer sehen: Vopos, die telefonierten, Autos, die kamen und gingen, Lastwagen, die Verstärkung brachten, usw. Wir dachten, wir hätten versehentlich den Dritten Weltkrieg, direkt vor unserer Haustür, ausgelöst.

Als das Fernsehteam weg war, kletterten vier Vopos mit einer Leiter die Mauer hinauf und gingen dann auf der Westseite wieder hinunter. Sie beschlagnahmten alles, was wir bereits an die Mauer geschraubt hatten. Die Tür, das Urinal, das Waschbecken, ein Paar Schuhe. Wir hatten eine Brille bemalt und mit einem Spray geschrieben "Eat your Feet!" und in die Brillengläser hatten wir zwei alte Schuhe gehängt.

Sie haben alles fotografiert und dann alle diese Objekte an einen unbekannten Ort weggebracht.

Christophe Bouchet: Ich hatte auch ein Loch in die Mauer gebohrt, damit ich die andere Seite sehen konnte, aber sie haben es nicht bemerkt.

Thierry Noir: Der Vopos zog und schob diese Kellertür über die 360 cm hohe Mauer bis ganz nach oben. Diese Tür war so schwer! Wir hatten große Mühe, es mit 4 Personen an die Mauer zu tragen. Nach mehreren Schwüngen Ost-West-Ost, plötzlich BOOM! Sie stürzte auf der Ostseite mit einem gigantischen Krachen ein.

Seitdem kletterten die Vopos immer öfter auf Leitern, um über die Mauer auf unsere Seite zu schauen. Sie beugen sich mit einem riesigen Teleobjektiv bis zur Taille hinunter, um viele Fotos zu machen.

Ein paar Tage nach der Geschichte mit der Tür, haben wir ein zweites Waschbecken an der Mauer installiert. Die Vopos nahmen es am nächsten Tag heraus. Ich glaube, sie sind jetzt vorsichtiger.

Françoise Cactus: Und Sie, Christophe, dürfen Sie nicht mehr in den Osten?

Thierry Noir: Das ist eine ganz andere Geschichte. Am 19. November 1984 fuhren wir mit dem Zug nach Malmö (Schweden). In seinem Koffer hatte Christophe "Actuel": ein französisches Magazin, in dem die Fotos des Monats Mai veröffentlicht wurden, die beim Klettern der vier Vopos über die Mauer entstanden waren.

Die Kontrolleure im Zug waren sehr nervös. Als sie die Fotos sahen, sagten sie: "Oh, das sind unsere Soldaten!" Sie fanden auch Briefe aus dem Checkpoint Charlie Museum in Christophs Koffer.

Christophe Bouchet: Sie zwangen mich, aus dem Zug auszusteigen. In einem Büro, am Bahnhof Friedrichstraße, wartete ich mindestens eine Stunde lang. Zwei, drei, vier Soldaten bewachten mich.

Ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie viel Angst ich hatte. Dann kam ein Stasi-Offizier herein und sagte: "Monsieur Bouchet, Sie müssen wissen, dass wir große Probleme mit Ihnen haben?"

Ich sagte: "Was für Probleme?" Also zeigte er mir ein Foto in einem Buch, wie sie es im Westen haben, ein großes Buch, in dem alle Terroristen katalogisiert sind. Ich war wie Baader im Osten! Verstehen Sie das? Es war ein Foto von mir. Ich war gut wieder zu erkennen.

Thierry Noir: Ihm wurde vorgeworfen, "eine illegale Bemalung eines Grenzelements der DDR" gemacht zu haben, was streng verboten ist.

Françoise Cactus: Sie mussten keine Strafe zahlen?

Christophe Bouchet: Die Vopos haben mir direkt gesagt: "Wenn Sie das nächste Mal wieder in die DDR einreisen, sitzen Sie zwei Jahre im Gefängnis!"

Thierry Noir: Der Westen müsste als Ausgleich dafür seine Flugreise bezahlen, um ihn in und aus West-Berlin zu bringen.

Françoise Cactus: Was ist Ihnen lieber, die Arbeit auf der Straße oder eher in einer Werkstatt?

Thierry Noir: Eigentlich ist es gut, beides zu tun.

Christophe Bouchet: Ich arbeite in der Straße, neben dem Kudamm Karrée, in Charlottenburg. Jeden Tag, egal ob es windig, regnerisch oder verschneit ist. Weniger, wenn es regnet, denn das beschädigt die Gemälde. Aber wenn es schneit, fragen die Leute: "Ist Ihnen nicht kalt?"

Ich habe natürlich eine kleine Heizung. Ich halte meinen Hut hoch und sage: "Haben Sie bitte 10 Mark, damit ich mich aufwärmen und eine Tasse Kaffee trinken kann?" Manche Leute geben mir Geld. Andere halten mich für einen Idioten. Manchmal mache ich ein gutes Essen in einem Restaurant.

Da ich fast wie ein Penner gekleidet bin, schauen mich die Kellner mit Krawatte misstrauisch an. Sie sagen mir: "Wenn du saubere Kleidung tragen würdest, würden wir dich reinlassen!" Ich sage sie: "Es wird nicht lange dauern, ich werde sehr bald wiederkommen!"

Also ziehe ich schnell meinen Pullover, die Hose und die mit Farbe bespritzte Schürze aus. Es dauert zehn Sekunden, darunter trage ich einen Anzug. Ich bin gleich wieder da und sage: "Ich gehe mir jetzt die Hände waschen!" Danach setze ich mich an einen Tisch und sage ganz laut: "Machen Sie mir ein Gedeck und bringen Sie mir bitte die Speisekarte!"

Françoise Cactus: Ich habe Sie schon auf dem Kurfürstendamm gesehen. Sie hatten ein Schild geschrieben, auf dem stand, dass Sie taubstumm sind, haben Sie es noch?

Christophe Bouchet: Taub, ja. Ich bin wirklich taub, es ist praktisch, ich werde es erklären. Die meisten Kunden wollen reden.

Und wenn du anfangst zu reden, bist du verloren! Ich spreche immer noch mit einigen, je nach ihrer Mentalität. Ich liege nie falsch. Die Leute, die meine Bilder kaufen, sind keine Idioten.

Françoise Cactus: Sie malen nach religiösen Themen und Ihre Bilder ähneln oft Kirchenfenstern. Warum ist das so?

Christophe Bouchet: Es liegt nicht daran, dass ich katholisch bin. Nein, diese Idee müssen Sie vergessen. Das liegt daran, dass der Himmel für mich wie eine Glaskugel ist, eine Glaskugel aus Duralex zum Beispiel, wie eine Glasschale, auf die ein Stein geworfen wurde. Es ist nicht gebrochen, aber man kann alle Risse sehen.

Françoise Cactus: Einige Ihrer Arbeiten sind auch sehr romantisch. "Die Träume einer jungen Frau an einem Frühlingsabend", zum Beispiel!

Christophe Bouchet: Ja, aber das sind meine alten Bilder.

Thierry Noir: Ja, Christophe hat auch das gesamte Neue Testament auf Holztafeln dargestellt.

Françoise Cactus: Diese Mauer war eine gute Werbung für euch.

Christophe Bouchet: Ja, später werde ich sagen: "Da, das ist etwas. Und Sie, was haben Sie getan?" Weil die Leute viel reden und sich nicht trauen, etwas zu tun.

Thierry Noir: Man musste sich trauen, es zu tun.

Christophe Bouchet: Wir haben es geschafft. Im Frühjahr würden wir das gerne wiederholen. Wir werden versuchen, fünf Kilometer Mauer zu bemalen, dann werden wir den Weltrekord brechen. Wir haben bereits 500 Meter geschafft. 500 Meter sind mindestens ein Zehntel dessen, was wir machen wollen, nicht wahr? Und es ist bereits das 300ste der Gesamtlänge der Berliner Mauer! Wir malen sehr unterschiedlich. Aber es gibt eine Einheit in unseren Bildern an der Mauer.

Thierry Noir: Außerdem wollen wir hier im Jugendzentrum "Georg von Rauch-Haus", wo wir wohnen, eine Galerie mit einem kleinen Café einrichten. Doch der Berliner Senat droht mit der Schließung dieses Hauses. Vielleicht könnten einige Leute uns helfen, die Galerie einzurichten. Und wir brauchen auch Farbe für die Mauer.

Christophe Bouchet: Ja, auch die scheußlichsten Farben, wen interessiert das schon? Denn manchmal mischen wir zwei hässliche Farben zusammen, und das ergibt eine schöne Farbe. Ich habe andere Projekte, aber für später, wie zum Beispiel nach New York zu gehen. Ich habe auch etwas im Sinn für eine Performance mit Möbeln. Vor ein paar Jahren habe ich in Tours (Frankreich) eine Performance mit Parkuhren gemacht. Ich schnitt sie aus und schweißte sie zusammen, um sie zu Denkmälern zu machen.